Von der Entstehung der Selbstentfremdung, und den Auswirkungen auf den Existenzvollzug
Christiana Schlögelhofer
Zusammenfassung
Ausgehend von der Existenzdefinition, „unter Existenz wird in der Existenzanalyse ein sinnvolles, in Freiheit und Verantwortung gestaltetes Leben verstanden, das der Mensch als das Seinige erlebt und worin er sich als Mitgestalter versteht“ (Längle 2008, 6), geht es in meiner Arbeit darum, welchen Einfluss Selbstentfremdung auf die „Existenz“ ausübt, und wie sich Selbstentfremdung in die Existenzanalyse integrieren lässt.
Neben einer Begriffsdefinition, die sich vor allem auf die Selbstentfremdung selbst bezieht, aber auch auf andere für diese Arbeit wesentliche Ausdrücke, wie Existenz und Person, ist ein kritisches Hinterfragen der Entfremdung und Selbstentfremdung Thema, wobei ich mich vorwiegend auf die Arbeit der Philosophin Rahel Jaeggi beziehe. Ein Abschnitt beschäftigt sich mit dem früheren und klassischen Verständnis, sowie dem aktuell neu definierten Verständnis der Entfremdung, wie es von Rahel Jaeggi herausgearbeitet wurde. Ein weiterer Teil der Arbeit widmet sich dem Versuch, einer Unterscheidung von Selbstentfremdung und Selbstverlust.
Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die Ursachen und Folgen von Selbstentfremdung, wobei ich mich sowohl auf biographische, aber auch auf gesellschaftliche und soziale Faktoren beziehe. Die sehr vielfältigen Folgewirkungen stehen hauptsächlich mit der Beziehungsgestaltung und Emotionalität, aber auch mit den zu Beginn genannten Themen der Freiheit, Verantwortung und Authentizität in Zusammenhang. In diesem Hauptteil meiner Arbeit finden sich auch psychoanalytische Ansätze wie sie von A. Miller, K. Asper, E. Fromm und A. Grün beschrieben werden.
Schlüsselwörter: Entfremdung, Selbstentfremdung, Selbst, Identität, Person, Existenz
Einleitung
Nach einer Zeit der Überbeanspruchung des Themas der Entfremdung sowie Selbstentfremdung und einer damit einhergehenden Infragestellung, kommt es aktuell wieder zu einer verstärkten Hinwendung, da dieses individuelle und gesellschaftliche Problem entweder immer noch sehr gegenwärtig ist oder sich aufgrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen verstärkt zeigt. Dieser Thematik widmet sich die Professorin für praktische Philosophie und Sozialphilosophie Rahel Jeaggi in ihrem 2016 überarbeiteten Buch „Entfremdung“. Ihre sehr interessanten und detaillierten Differenzierungen der Entfremdung und dessen Folgewirkungen lassen einen wesentlichen, aber leicht zu übersehenden Aspekt für ein „gutes Leben“ sichtbar werden.
Mein Aufsatz behandelt die Frage, wie sich Selbstentfremdung in die Theorie der Existenzanalyse einbringen lässt, und wo es Zusammenhänge bezüglich der Ursachen sowie der Folgen gibt. Es stellt sich die Frage, welchen Einfluss die eigene Fremdheit sich auf eine existenzielle Lebensführung auswirkt, und welche Rolle die Person dabei spielt. Dazu werde ich konkreter auf die Fragestellung eingehen, was es bedeutet sich selbst fremd zu sein und wie das zum Ausdruck kommt.
Aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen, und einer in vielen Lebensbereichen wachsenden Beschleunigung, sowohl im beruflichen und sozialen Umfeld aber auch in der Freizeit, findet immer mehr Entfremdung von sich statt. Der Soziologe Hartmut Rosa hat sich intensiv mit dem Thema der Beschleunigung in der heutigen Zeit befasst, welches im Kapitel über die Ursachen der Selbstentfremdung dargestellt wird. Gefragt ist, immer mehr zu erleben, alles soll immer schneller gehen. Menschen haben immer mehr Probleme zur Ruhe zu kommen und diese auszuhalten. Immer extremere und intensivere Erlebnisse sind notwendig, um sich selbst spüren zu können. Zeit für sich, und ein in sich hinein spüren ist nicht gefragt. Dadurch entfernen sich die Menschen immer mehr von sich selbst. Gegenwärtig spielt auch die Digitalisierung, die für eine zunehmend größere Beschleunigung in vielen Lebensbereichen sorgt, eine immer wesentlichere Rolle.
Ein großer Schwerpunkt der Arbeit, wird in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Ursachen von Entfremdung liegen, die einerseits in frühkindlichen Erfahrungen liegen, aber auch in gesellschaftliche und soziale Faktoren.
Begriffsdarstellung von Entfremdung und Selbstentfremdung
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht das Thema der Selbstentfremdung! Es ist an dieser Stelle die Frage naheliegend, was es bedeutet sich selbst nicht entfremdet zu sein! Nicht entfremdet zu sein, ermöglicht es „sein Leben zu leben“ und „sich auf bestimmte Weise mit sich und der Welt identifizieren, sich diese aneignen zu können. Das nichtentfremdete ist dann nicht einmal das gute Leben. Nicht entfremdet zu sein bezeichnet eine bestimmte Weise des Vollzugs des eigenen Lebens und eine bestimmte Art, sich zu sich und den Verhältnissen, in denen man lebt und von denen man bestimmt ist, in Beziehung zu setzten, sie sich aneignen zu können“ (Jaeggi 2016a, 14, 58). In diesem Prozess der Aneignung findet ein Umgang mit sich statt, es besteht eine Zugänglichkeit zu sich selbst. Es kann über sich selbst und über die Welt verfügt werden. Es wird möglich das Leben, das man lebt, sich zu eigen zu machen und sich mit dem was man tut zu identifizieren, ein Leben in Selbstverwirklichung ist dadurch erreichbar.
In einer Darstellung des Fremden von Alfried Längle spielt Beziehung, sowie Wechselwirkung eine wesentliche Rolle: „Fremd ist, was mir fern steht, wo ich keine Beziehung habe, was „weit weg ist“ für mich, wo keine Begegnung stattfindet. So ist es verständlich, dass ich mir selbst fremd werden kann (Haltungen, Entscheidungen, Gefühle)“ (Längle 2007a, 120).
Ebenso verweist Erich Fromm auf die Tatsache des Verlustes der Beziehung zu sich und der Umwelt. Aufgrund dieser fehlenden Bezugnahme, bleibt unklar, was für den Betroffenen richtig, wichtig und gut ist, er erlebt sich selbst als fremd. Der Mensch erlebt sich in der Selbstentfremdung „nicht mehr als Mittelpunkt seiner Welt, als Urheber seiner eigenen Taten. Der entfremdete Mensch hat den Kontakt mit sich selbst genauso verloren, wie er auch den Kontakt mit allen anderen Menschen verloren hat“ (Fromm 1991, 107). Selbstentfremdung versteht sich als eine Unkenntnis bezüglich der eigenen Person. Der Zugang zum eigenen Wesen wurde entweder nicht entwickelt, ist abgeschnitten oder verschüttet. „Den meisten sensiblen Menschen bleibt ihr wahres Selbst tief und gründlich verborgen. Viele begabte Menschen leben völlig ahnungslos über ihr wahres Selbst, vielleicht verliebt in ihr idealisiertes, angepasstes, falsches Selbst“ (Miller 1983, 11). Für Miller steht der Zugang zum wahren Selbst, zu den echten Gefühlen im Zentrum.
Entfremdung unterliegt einer Wechselwirkung, demnach jemand, der sich selbst fremd ist, auch seine Welt als fremd ererbt. Fremd wirkt das soziale Umfeld als auch die Dinge, von denen der Mensch umgeben ist. Hierbei bezieht sich Jaeggi auf Arendt sowie auf Marx: „Es ist gerade die Unmöglichkeit, sich die Welt als Resultat der eigenen Tätigkeit anzueignen, die Entfremdung ausmacht. Weltentfremdung bedeutet also Selbstentfremdung und umgekehrt, das Subjekt ist von sich entfremdet, weil es von der Welt entfremdet ist“ (Jaeggi 2016b, 14).
Der Soziologe Hartmut Rosa wiederum versteht unter Entfremdung eine „Negation des guten Lebens“ (Rosa 2013, 10). In seiner Theorie wird etwas freiwillig und zugleich gegen den eigentlichen, eigenen Willen getan. Wiederholt sich das, so verselbstständigt sich diese Diskrepanz und es wird vergessen, was ursprünglich das Richtige war. Das eigentliche Ziel und die Absicht geraten in den Hintergrund. Nur ein vages Gefühl der Fremdbestimmung bleibt, ohne dass jemand darüber bestimmt.
Zur Entfremdungskritik
Die Auseinandersetzung mit der Selbstentfremdung erweckt teilweise den Eindruck, dass es sich in der „Nichtentfremdung“ um einen vollkommen, ja einen perfekten Menschen handeln muss! Jemand, der sich immer bewusst ist, was das jeweils Richtige in der jeweiligen Situation ist. Es hinterlässt das Bild von einem „Ideal des guten Lebens“, sowie eine „perfektionistische Orientierung an eine Vorstellung von einem Wesen oder Natur des Menschen“ (Jaeggi 2016, 20). Es wiederspiegelt das Ideal einer spannungsfreien Einheit in dem sich der Mensch befinden sollte. Jemand, der biographisch von seinen Eltern all das bekommen hat, was für seine gesunde Entwicklung unabdinglich ist. Ein Mensch, der keine Probleme mit sich oder mit andern hat. Jemand der mit schwierigen Situationen, egal in welcher Hinsicht, gut zurechtkommt. Dazu schreibt Jaeggi unter anderem in Bezug auf Marx und Rousseau, die hiermit eine Wesensbestimmung des Menschen voraussetzen: „Das, was als entfremdet diagnostiziert wird, muss sich von etwas entfernt haben, demjenigen fremd geworden sein, was als die eigentliche Natur des Menschen, seine wahre Essenz gelten kann“. Da soll „etwas wesenhaft Eigenes sein, von dem man sich entfremdet“ (Jaeggi 2016, 7). Jaeggi stellt auch die Frage der Wahrnehmung in Bezug auf die Entfremdung. Ist sich jemand tatsächlich selbst entfremdet, wenn er das gar nicht wahrnimmt? Wenn derjenige meint, sich mit etwas zu identifizieren, was vielleicht gar nicht so ist? Sind die vorhandenen Wünsche tatsächlich die Eigenen, oder sind sie das Ergebnis subtiler Manipulation? (Jaeggi 2016). Bei Marx und Arendt unterliegt das Thema der Entfremdung einer einseitigen Sichtweise. Marx sieht das Problem der Entfremdung bezüglich der Gesellschaft beim Individuum selbst, und nicht in der Umwelt. Arendt hingegen meint, das Problem in der Weltentfremdung zu identifizieren.
Rahel Jaeggis Neuentwicklung der Entfremdung und Selbstentfremdung
In Jaeggis Versuch einer Neudefinition des Entfremdungsbegriffes spielt Beziehung eine große Rolle. Es geht nicht mehr um einen perfektionistischen Wesenskern, der der Entfremdung entgegensteht. Ebenso wenig handelt es sich um eine einfache Beziehungslosigkeit, noch um eine völlige Abwesenheit von Beziehung, sondern es geht um die Qualität einer Beziehung. So gesehen, ist eine entfremdete Beziehung eine „defizitäre Beziehung“ (Jaeggi 2016). Es handelt sich um eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (Jaeggi 2016, 20). Das zeigt sich in einer Beeinträchtigung der Beziehung, es findet kein Austausch mehr statt. „Entfremdung ist nicht Fremdheit. Entfremdung bedeutet nicht einfach Dissoziation und meint nicht die bloße Abwesenheit einer Beziehung“ (Jaeggi 2016, 48). Jaeggi versteht Entfremdung als etwas, das eigentlich zusammengehört, wo im Grunde ein Bezug zu etwas vorhanden ist, oder sein sollte. Oder auch Trennung von etwas, wo einem eigentlich etwas angeht. Laut Jaeggi bedeutet ein „nicht entfremdet sein“, wieder völlig eins zu sein mit sich. Es findet Austausch statt mit der Umwelt, mit dem, wo wir immer wieder auf „Neues“ stoßen in unserem Leben, auf unterschiedliche Ansichten, Lebensweisen, Möglichkeiten, die uns noch fremd sind. „Das nichtentfremdete ist dann nicht das versöhnte, nicht das glückliche, vielleicht noch nicht einmal das gute Leben. Nicht entfremdet zu sein bezeichnet eine bestimmte Weise des Vollzugs des eigenen Lebens und eine bestimmte Art, sich zu sich und den Verhältnissen, in denen man lebt und von denen man bestimmt ist, in Beziehung zu setzen sie sich aneignen zu können“ (Jaeggi 2016, 58). Zentral in Jaeggis Theorie ist das sogenannte „Aneignungsverhältnis“. Im Aneignungsprozess kommt es zur Integration dessen, was uns wichtig ist, wodurch wir das, was uns betrifft zu eigen machen. In diesem Prozess sind wir in Beziehung mit der Welt und mit uns, somit nicht in einem entfremdeten Verhältnis. „Der Begriff der Aneignung bezeichnet eine Art und Weise, sich zu sich und der Welt in Beziehung zu setzen, mit sich und der Welt umzugehen und über sich und diese verfügen zu können. Entfremdung als Störung dieses Verhältnisses, betrifft die Weise des Vollzugs dieser Welt- und Selbstbezüge, also das Nichtgelingen oder die Verhinderung von Aneignungsprozessen“ (Jaeggi 2016, 62). Jaeggi versteht Aneignung als einen „produktiven Prozess“, „was angeeignet wird, ist gleichzeitig Resultat des Aneignungsprozesses“ (Jaeggi 2016, 64).